Liebe Leserinnen und Leser, bevor ich mit dem eigentlichen Artikel beginne, stellt euch zunächst folgende – zugegebenermaßen etwas makabre – Situation vor: Ihr seid schwer erkrankt, beispielsweise an Multipler Sklerose (MS), eine Krankheit, die in einigen Fällen damit einhergeht, dass früher oder später jegliche Bewegung unmöglich wird. Ihr könnt eure Hände kaum noch bewegen, ihr habt keine Kraft mehr, an eure Hobbies ist nicht einmal im Entferntesten mehr zu denken. Ist das noch ein lebenswertes Leben? Möchtet ihr euch in der Sicherheit wiegen, dass ihr euer Leben jederzeit beenden könnt, wenn ihr die vorherige Frage irgendwann verneint? Wenn ja, wer soll das dann übernehmen dürfen?

Bei all diesen Fragestellungen kommen Begriffe wie Tötung auf Verlangen, Beihilfe zur Selbsttötung oder aktive Sterbehilfe ins Spiel – Themen, die im momentanen Diskurs weitestgehend auf der Strecke bleiben, denn: Auch die Schlagzeilen rund um die menschliche Gesundheit werden momentan selbstverständlich durch die Corona-Pandemie bestimmt – und das auch zu Recht. Diskussionen um Themen wie nationale und globale Impfstrategien, Lockerungen für Geimpfte und Genesene und Testkonzepte in öffentlichen Einrichtungen werden in den Medien massenhaft breitgetreten. Dabei habe ich allerdings mehr und mehr das Gefühl, dass andere signifikante gesundheitliche Fragen kaum Beachtung finden.

Dazu gehört auch die Debatte um die Suizidhilfe – ein Themenfeld, das erst einmal von der Sterbehilfe abzugrenzen ist. Während bei der aktiven Sterbehilfe – auch Tötung auf Verlangen genannt – der Tod eines Menschen absichtlich beschleunigt oder herbeigeführt wird, wird dem Patienten oder der Patientin bei der Beihilfe zur Selbsttötung lediglich ein Medikament bereitgestellt, das jedoch selbstständig eingenommen werden muss. Parallel zur Diskussion um eine Lockerung der Regelungen zur Sterbehilfe, schwelt auch bei der Suizidhilfe seit Jahren ein Konflikt der unterschiedlichen Meinungsträger:innen. Spätestens seit der Einführung des sogenannten Gesetzes zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung durch den Bundestag im Jahre 2015 werden die Ansichten von politischen, religiösen und gesundheitlichen Institutionen teilweise offensiv ausgetauscht.

Auch von gesetzlicher Seite wurde seitdem immer wieder eingegriffen: Unter anderem formulierte das Bundesverfassungsgericht im Jahre 2020 in Bezug auf die Selbsttötung, dass das Recht auf selbstbestimmtes Sterben die Freiheit mit einschließe, den Suizid zu vollziehen und ergänzte im Folgenden: “Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.” Seit diesem Urteil ist die Macht des Staates in gewisser Weise begrenzt, da die Autonomie des Individuums höher gestellt wird als Verbote politischer Entscheidungsträger:innen.

Diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts stützt sich wohl auch auf die Mehrheitsmeinung der deutschen Bevölkerung: In einer Umfrage von 2020 lehnten zwei Drittel der befragten Personen den §217 des Strafgesetzbuches ab, der für die Hilfe beim Suizid eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren vorsieht. Noch deutlicher positionierten sich die Deutschen bei der Frage, ob es Ärzt:innen erlaubt sein sollte, schwerstkranke Patientinnen und Patienten beim Todeswunsch zu unterstützen: gut 80 Prozent sind dafür. Allein die Zahl an sich spricht eine deutliche Sprache, auffällig ist zusätzlich die gestiegene Akzeptanz seit 2012, damals waren es noch 76 Prozent.

Und doch ist – trotz der vorgegebenen Leitlinien vonseiten des BVerfG und der klaren Meinung der deutschen Bevölkerung – bislang nichts gesetzlich geregelt. Verschiedene Fragen bleiben seit geraumer Zeit ungeklärt; Fragen, die allein das praktische Beispiel zu Beginn des Artikels unweigerlich aufwirft. Besonders die Aspekte des “Wer” und des “Wie” bewegen sich bislang in einer rechtlichen Grauzone, viele Ärztinnen und Ärzte trauen sich nicht heran an die Hilfe bei der Selbsttötung, Angehörige springen gezwungenermaßen gelegentlich in die Bresche – auch das ohne klaren Rechtsrahmen.


Dieses rechtliche Vakuum soll in naher Zukunft gefüllt werden, insgesamt 38 Abgeordnete von SPD, FDP und die Linke reichten im Bundestag im April einen interfraktionellen Antrag ein, der in ein liberales “Suizidhilfegesetz” münden soll. Der Entwurf strebt an, den vom Bundesverfassungsgericht gewährten Normierungsspielraum zu nutzen, indem Menschen, die “ernstlich sterben möchten” und “diesen Wunsch frei und eigenverantwortlich im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte gebildet haben” echte Möglichkeiten erhalten, ihr freies Recht auf selbstbestimmtes Sterben wahrzunehmen. In diesem Zusammenhang sollten sich Betroffene einer professionellen Begleitung bis zum Lebensende sicher sein können und im Zweifelsfall Zugang zu Medikamenten erhalten, die das Leben beenden können.

Angriffsfläche liefern bei diesen relativ allgemein gehaltenen Lösungsvorschlägen sicherlich die beiden oben aufgeführten Zitate, die eine generelle Problematik in der Diskussion offenlegen: Wie können sich Verantwortliche sicher sein, dass der Todeswunsch wirklich ausgereift ist? Der Entwurf versucht sich zumindest an einer Einordnung, diese besteht aus verschiedenen Punkten. Beispielsweise setzt laut den Abgeordneten ein autonom gebildeter, freier Wille voraus, dass keine akute psychische Störung vorliegt und der Patient oder die Patientin das 18. Lebensjahr vollendet hat. Komplizierter wird es, wenn es um das Aufzeigen der Folgen und denkbarer Handlungsalternativen gegenüber dem Suizid geht. Über diese solle in einer ergebnisoffenen Beratung aufgeklärt werden, an dessen Ende verpflichtend eine Bescheinigung auszustellen sei, die die Ernsthaftigkeit des Todeswunsches dokumentieren solle. In dem Entwurf heißt es dazu: “Hat die beratende Person begründete Zweifel daran, dass die beratene Person aus autonom gebildeten, freiem Willen […] heraus in Betracht zieht, sein Leben zu beenden, hat sie dies auf der Bescheinigung zu vermerken.” Erst nach dieser Beratung kämen Ärztinnen oder Ärzte ins Spiel, die anhand der Bescheinigung eine Entscheidung treffen müssten, ob der behandelten Person tatsächlich ein Medikament zur Selbsttötung verschrieben werde. Die Ernsthaftigkeit der Entscheidung spielt auch bei diesem Schritt eine Rolle; die suizidwillige Person habe nachzuweisen, dass seit der Beratung mindestens zehn Tage und höchstens acht Wochen vergangen sind.

Aufgrund der bereits skizzierten Fragestellungen, die mit dem Thema der Liberalisierung der Selbsttötung einhergehen, erntet der Entwurf von verschiedenen Seiten Kritik. Die CDU/CSU beispielsweise bestand in der geführten Auftaktdebatte Mitte April darauf, dass nur in den Fällen, in denen die Autonomie der Betroffenen wirklich zuverlässig festgestellt werden könne, eine Rechtfertigung zugelassen werden solle. Generell solle die Möglichkeit einer Beratung auch für Alternativen zum Sterbewunsch geboten werden. Die AfD, die bei der Debatte von Beatrix von Storch vertreten wurde, betonte vornehmlich, dass selbst Suizidforscherinnen und -forscher sowie Palliativmedizinerinnen und -mediziner vor einer Legalisierung des assistierten Suizids warnen. Darüber hinaus bezeichnete sie die Lockerung der Richtlinien unter anderem als die Begründung einer “Kultur des Todes”, mit der die Zahl der Suizide stark ansteigen würde.

Frau von Storchs Vermutung ist zunächst in gleichem Maße naheliegend und logisch: Haben Bürgerinnen und Bürger vergleichsweise unkomplizierten Zugang zu tödlichen Medikamenten, nehmen mehr von ihnen dieses Angebot wahr – ob wohlüberlegt oder vorschnell. Doch entspricht das der Realität? Das Beispiel vom US-Bundesstaat Oregon, das häufig als eine Art Blaupause für eine mögliche Regelung zum assistierten Suizid genannt wird, lässt zumindest begründete Zweifel daran aufkommen. Seit der Einführung des sogenannten Oregon Death with Dignity Act im Jahre 1997 hat sich der Anteil der Selbsttötungen an den gesamten Todeszahlen kaum erhöht. Anders sieht das in der Schweiz aus: Dort steigen die Zahlen seit mehreren Jahrzehnten konstant an, es scheint sich sogar eine Art ‘Suizidtourismus’ entwickelt zu haben, auch aus Deutschland reisen offenbar immer wieder Menschen an. Allerdings ist unser südlicher Nachbar in dieser Debatte ein unzureichendes Beispiel, da eine gesetzliche Regelung für die assistierte Selbsttötung nahezu ausbleibt und es somit dem hier diskutierten Entwurf der Fraktionen nicht gerecht wird. Spannend ist in dem Zusammenhang, dass sich der Gesetzesentwurf von SPD, FDP und die Linke sehr ähnlich liest wie das, was in Oregon bereits seit langer Zeit Realität ist. Auch dort sind Volljährigkeit, klare Urteilsfähigkeit und Bescheinigung von unabhängigen Instanzen Teil des Gesetzes. Der große Unterschied allerdings: In dem US-Bundesstaat wird ein tödliches Medikament nur an die Menschen ausgegeben, die an einer unheilbaren, tödlichen Krankheit leiden, von Sterbewilligen generell ist da keine Rede. Dieser doch weitreichende Zusatz im vorliegenden Gesetzesentwurf lässt die Forderungen also noch einmal in einem anderen Licht erscheinen.

Wenn es nach den Abgeordneten geht, die den Entwurf vorgelegt haben, soll eine Änderung in der brisanten Frage nach Suizidhilfe noch in dieser Legislaturperiode erreicht werden. Dieses Vorhaben scheint allerdings sehr ambitioniert zu sein, plant das Gesundheitsministerium um Minister Spahn wohl aktuell selbst einen Gesetzentwurf zu dem Thema. Dieser soll wiederum eher eine Verschärfung als eine Liberalisierung der Suizidhilfe vorsehen, geplant sind Werbeverbote und eine Aufrechterhaltung der Strafregelung. Doch auch bei diesem Entwurf scheint es schwer vorstellbar, dass er langfristig Bestand haben wird, denn dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird sich das Gesundheitsministerium nur schwerlich widersetzen können. Eine Art Fingerzeig, welche Richtung das Thema Suizidhilfe in Deutschland in Zukunft einschlagen könnte, bietet eine Regelung des deutschen Ärztetages von dieser Woche: Das Verbot der ärztlichen Suizidhilfe wurde offiziell aus der Berufsordnung gestrichen.