„Corona-Impfturbo in Deutschland”, „Deutschland legt den Impfturbo ein”, „Deutschland zündet tatsächlich den Impfturbo”. Die Meldungen überschlagen sich und das nicht zu Unrecht – Mehr als ein Viertel der Bevölkerung wurde einmal geimpft. Es sind gute Nachrichten, insbesondere nach den Startschwierigkeiten der deutschen Impfkampagne. Für diesen Monat werden weitere Großlieferungen erwartet und die Impfpriorisierung wird voraussichtlich im Juni aufgehoben.

Ich will diese Meldungen nicht gänzlich schlecht reden, trotzdem sind sie leider zweitrangig. Denn selbst wenn ganz Deutschland morgen durchgeimpft wäre, nur globaler Impffortschritt kann die Pandemie beenden und im Übrigen schon vor dem Ende Hunderttausende Menschenleben retten. Der eigene Nutzen für Deutschland wird spätestens klar, wenn man sich die zahlreichen Mutationen ansieht, die schon jetzt auf der ganzen Welt kursieren. Deshalb ist die weltweite Impfstrategie auch ein Thema für den deutschen Bundestag. Am Donnerstag wird im Parlament über einen Antrag von Die Linke hierzu diskutiert und abgestimmt. Ihn will ich mir genauer anschauen und die sehr spannende Diskussion um den ‘TRIPS-Waiver’ erläutern, der eine temporäre Aufhebung von Patenten auf Impfstoffe zur Folge hätte.

In ihrem Antrag fordern die Linken die Bundesregierung auf, über das Infektionsschutzgesetz den Patentschutz für Covid-Impfstoffe mit der Begründung des öffentlichen Interesses aufzuheben (§13 Abs. 1). So könnten die Konzerne hinter den wichtigsten Impfstoffen dazu bewegt werden, Lizenzen an andere Hersteller zu vergeben, wodurch insgesamt mehr Dosen produziert werden können. Außerdem könne man gesetzlich in die Preisgestaltung eingreifen (§5 Abs. 2).

COVAX oder TRIPS-Waiver?

Der Antrag wurde im Gesundheitsausschuss debattiert. Hier merkt die SPD an, dass nationale Anstrengungen über das Infektionsschutzgesetz nicht ausreichen würden und weist auf die COVAX-Initiative der WHO hin, welche die Bundesregierung unterstützt. Doch was ist überhaupt das Ziel von COVAX und wie sieht der aktuelle Stand aus?

Der COVAX-Fonds sammelt Geld, um Impfdosen zu kaufen, die anschließend ärmeren Ländern zur Verfügung gestellt werden. Auch reiche Länder zahlen in diesen Fonds ein. Bis Ende des Jahres sollen durch ihn 1,7 Milliarden Impfdosen geliefert werden. Das würde zwar nur knapp ein Viertel der Bevölkerung der Zielländer abdecken, doch selbst hinter diesem Ziel bleibt die Initiative aktuell zurück. Reiche Länder haben nicht nur 80% des Impfstoffmarktes leer geräumt, bis Ende März sollten über COVAX 100 Millionen Dosen verteilt sein und nicht mal die Hälfte davon wurde tatsächlich geliefert. Wir halten also fest: Der ursprüngliche Plan, um arme Länder nicht komplett im Stich zu lassen, scheitert gerade.

Der Antrag der Linken bezieht sich nicht nur auf die nationale, sondern auch auf die internationale Ebene. Hier setzt sie sich dafür ein, dass der ‘TRIPS-Waiver’ unterstützt wird. Das ist eine von Südafrika und Indien angeführte und von über 100 Ländern unterstützte Initiative in der WTO. ‘Waiver’ heißt nichts anderes als Verzicht. Staaten soll die Möglichkeit gegeben werden, einzelne Verpflichtungen aus dem TRIPS-Abkommen, in dem es um geistiges Eigentum geht, für die Dauer der Pandemie auszusetzen. Hiermit soll ein besserer Zugang zu Mitteln der Pandemiebekämpfung für ärmere Länder geschaffen werden. Dazu zählen beispielsweise Therapien oder Tests, im Fokus stehen allerdings Impfstoffe. Das Scheitern von COVAX und damit des Plans der Bundesregierung alleine ist aber natürlich noch kein Grund, den TRIPS-Waiver zu unterstützen. Was spricht also dafür und was dagegen? Es gibt einige Argumente, die immer wieder auftauchen, so auch in der Debatte um den Antrag der Linken im Gesundheitsausschuss.

Zwangslizenzen oder Patentschutz?

Die Union argumentiert, dass Länder im TRIPS-Abkommen auch ohne den Waiver bereits Zwangslizenzen veranlassen können. Diese Option gehört zu den ‘TRIPS-Flexibilitäten’ und wurde tatsächlich schon oft wahrgenommen. Brasilien und Thailand konnten während der AIDS-Pandemie mit Zwangslizenzen hohe Preise für Medikamente senken. Auch Deutschland wendete dieses Instrument an, um das Medikament eines US-Unternehmens zu importieren, welches hierfür das Patent einer japanischen Firma nutzte. Die USA, welche im Fall Brasiliens das Patentrecht ihrer Pharmaunternehmen mit Handelssanktionen verteidigen wollte, drohten dem deutschen Konzern Bayer mit einer Zwangslizenz für dessen Milzbrand-Medikament, um den Preis zu senken. Im vergangenen Jahr drohte die Niederlande dem Unternehmen Roche mit einer Zwangslizenz für Testflüssigkeit, weil die Firma selbst mit den benötigten Lieferungen nicht hinterher kam und die Rezeptur nicht preisgeben wollte.

Warum wird also der TRIPS-Waiver gefordert, wenn Patentrechte schon unter der aktuellen Regelung aufgehoben werden können? Zwangslizenzen haben entscheidende Nachteile. Wenn ein Staat eigene Kapazitäten hat, kann er zwar durch eine Zwangslizenz Produkte selbst herstellen, allerdings wäre keine Kooperation mit anderen Staaten möglich, die keine Kapazitäten haben. Außerdem kann nur eine vorher definierte Menge produziert werden, weshalb die Maßnahme für Massenimpfungen nicht geeignet ist. Nicht nur lange Rechtsstreits könnten kostbare Zeit kosten, sondern auch dass jedes betroffene Land diese individuell bewältigen müsste. Zwangslizenzen gelten zudem nur für einzelne Produkte, während der Waiver sich – wie bereits erwähnt – auf eine ganze Bandbreite bezieht.

Die Union ist weiterhin der Meinung, dass die Patentfreigabe Verunsicherung bei Unternehmen auslösen wird und geistiges Eigentum geschützt werden muss. So sieht es auch die FDP. Es sei den Investitionen von großen Firmen in Start-Ups und der Forschung von hunderten Unternehmen zu verdanken, dass im letzten Jahr so viele Impfstoffe so schnell entwickelt wurden. Das muss allerdings relativiert werden. Denn die Grundlagenforschung wird größtenteils staatlich finanziert und auch seit Beginn der Pandemie haben Staaten Milliarden von Euro in die Testung und Herstellung von Impfstoffen investiert.

Wer kann’s oder soll’s können?

Die nötigen technologischen Voraussetzungen für die Herstellung von Impfstoffen sind ein zentraler Punkt in der Diskussion und werden auch von der SPD bezüglich des Antrags der Linken erwähnt. Gesundheitsminister Jens Spahn macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass die Qualität der Impfstoffe unabdinglich für das Vertrauen in sie ist. Die Politikwissenschaftlerin Anne Jung bemängelt genau deswegen, dass Zwischenstände in der Forschung nicht schon früher geteilt wurden.

Tatsächlich gibt es beispielsweise auf dem afrikanischen Kontinent nur fünf Länder mit Produktionskapazitäten für Impfstoffe: Ägypten, Marokko, Tunesien, Südafrika und der Senegal. Diese leisten zudem hauptsächlich ‘Fill & Finish’-Arbeit, die am Ende der Produktionskette steht, wie das Abfüllen oder die Lagerung. Allerdings gibt es viele kleinere Standorte, die man für den Prozess ausstatten und mit einbeziehen könnte. Indien hat sogar sehr große Kapazitäten und kann unter einer der wenigen freiwilligen Lizenzen den Impfstoff von AstraZeneca produzieren. Dieser wurde an der Oxford-Universität von Anfang an mit der Absicht entwickelt, ihn ärmeren Ländern für die eigene Produktion zur Verfügung zu stellen.

Das Argument der fehlenden technischen Voraussetzungen ist an sich etwas paradox. Denn die Bundesregierung unterstützt bereits den Transfer von Technologie und Wissen in ärmere Länder in Form des ‘Acces to Covid-19 Tools Accelerators’ der WHO, der übergeordneten Kampagne von COVAX. Darüber hinaus muss die langfristige Perspektive betrachtet werden. Unter COVAX könnte es bis 2024 dauern, bis in Ländern mit wenig und mittlerem Einkommen ein Großteil der Bevölkerung geimpft ist. Solange diese Länder nicht selbst Impfstoffe produzieren können, werden sie auch bei möglichen notwendigen Anpassungen der Impfstoffe lange warten müssen.

Verlust des Lebens oder des Gewinns?

Trotz all dem demonstriert besonders der letzte Aspekt der Debatte, dass auch der TRIPS-Waiver kein Allheilmittel ist. Die Impfstoffproduktion erfordert Technologien, Kapazitäten und Wissen. Ob das als Argument gegen den Waiver gilt, ist allerdings Ansichtssache. Statt ein möglicherweise nützliches Werkzeug unbenutzt zu lassen, könnte man es schließlich auch angehen, diese Hindernisse aus dem Weg zu schaffen.

Es würde der Diskussion nicht gerecht werden, reichen Staaten vorzuwerfen, ausschließlich Profite großer Pharmaunternehmen beschützen zu wollen. Das behindert den Blick auf legitime Bedenken. Es wäre aber andererseits auch naiv, wirtschaftliche Interessen komplett auszublenden. Mehr noch, nach genauerer Betrachtung scheint mir der Schutz von Konzerngewinnen das stärkste Argument der Gegner des TRIPS-Waiver zu sein.

Patente schützen zunächst einmal Monopole und sie wurden in der Vergangenheit bereits zeitweise aufgehoben. Nicht nur deshalb ist klar, dass solche Eingriffe in den freien Markt ihn nicht zwangsläufig nachhaltig stören oder Innovation verhindern, die sowieso keine alleinge Fähigkeit des privaten Sektors ist. Die schnelle Verfügbarkeit von guten Impfstoffen ist primär der Wissenschaft zu verdanken, nicht der Marktwirtschaft.

Bei allen berechtigten Sorgen muss bedacht werden, dass der TRIPS-Waiver einen temporären Eingriff in einen spezifischen Sektor für eine Notsituation darstellt. Fest steht: Eine globale Pandemie erfordert globale Lösungen. Die Erfahrung aus anderen Pandemien zeigt, was der Preis für Untätigkeit sein kann – Zwischen 1997 und 2003 sind in Ländern südlich der Sahara 10 Millionen Menschen gestorben, obwohl AIDS-Medikamente in anderen Ländern schon verfügbar waren.