“Der Hirte sprach, die Schafe folgten”, “Er spricht – und alle springen” – das, was der SPIEGEL völlig wertfrei und Lage der Nation-Host Ulf Buermeyer sogar durchaus positiv als Reaktion auf die scheinbar im Grundgesetz festgeschriebene Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers zu sagen hatten, zeigt in Wahrheit nichts weniger als die Akzeptanz einer weiteren Hierarchisierung unserer Politik. Die alleinige Entscheidung von Olaf Scholz, die Atomkraftwerke in Deutschland bis April weiterlaufen zu lassen, kehrt der Demokratie ein weiteres Mal den Rücken zu.

Einen Aufschrei löst das im politischen Berlin allerdings keineswegs aus. Die Koalitionspartner von Grünen und FDP, die sich zuvor noch tagelang in starren Positionen festgefahren hatten, geben plötzlich so etwas von sich wie: “Der Bundeskanzler hat eine gute Lösung getroffen.” Dass damit ein weiterer Teil demokratischer Strukturen in unserer repräsentativen Staatsform ad acta gelegt wird, das scheint niemand auch nur auf dem Schirm zu haben. Ebenso wenig scheint jemand zu realisieren, dass soeben eine Person über den Kopf von allen Anderen – sogar vom Parlament – entschieden hat. Auch auf ein Medienecho wartet man vergeblich.

Alle Verantwortlichen lenken brav ein

Dabei widerstrebt das nicht nur dem Wesen der Demokratie, selbst die verbliebene demokratische “Macht” der Wahlen wird damit der Lächerlichkeit preisgegeben. Eine Person entscheidet – und nicht einmal die gewählten Parteien können in der Praxis etwas ausrichten. Zwar ist die Richtlinienkompetenz in Artikel 65 des Grundgesetzes festgelegt, allerdings widerspricht die Sonderstellung des Bundeskanzlers im Gesetzgebungsprozess politischen Grundpfeilern massiv. Das Parlament hat konkret kein Mitspracherecht – und nicht einmal die verantwortlichen Funktionäre können sich einigen. Wie jetzt die Praxis der AkW-Laufzeiten zeigt, lenken am Ende alle beteiligten Entscheidungsträger brav ein. Vom Parlament ist schlicht keine Rede.

Demokratische Prinzipien? Nein, danke!

Beide Parteien wussten im Hintergrund wohl schon zuvor von den Plänen des Bundeskanzlers – vielleicht haben sie sogar mitgewirkt bei der Entwicklung. Dass Scholz jetzt persönlich eingreift, zeigt nicht nur die Schwäche der Ampel-Koalition. Vor allem zeigt es, dass der Kanzler nicht zögert, wenn es darum geht, sich über demokratische Prinzipien hinwegzusetzen. Denn eigentlich wäre das Gezanke über die AkW-Laufzeiten etwas für den Koalitionsausschuss gewesen.

Es ist schlicht nicht nachvollziehbar, wie von allen Seiten das “Machtwort des Kanzlers” kommentarlos hingenommen oder – wie am Anfang gezeigt – sogar gelobt wird. Die letzten Reste einer schwachen deutschen Demokratie werden einer weiteren Hierarchisierung unterzogen. Die Entscheidung eines Einzelnen ist alles, aber nicht demokratisch.

Schon 2004 stellte der Politikwissenschaftler Eberhard-Schuett Wetschky zur Richtlinienkompetenz fest: “Das Alleinentscheidungsrecht des Kanzlers ist unvereinbar mit demokratischen Prinzipien.” 18 Jahre später interessiert sich offensichtlich niemand mehr dafür.