Lützerath ist geräumt. Und obwohl wir ein weiteres Mal demonstriert bekommen haben, wie unsouverän und ignorant der Staat mit Vorwürfen der Polizeigewalt umgeht – für die Klimabewegung ist das Kapitel noch nicht abgeschlossen.

So erinnerte ein Aktivist in der taz, dass die Kohle unter dem Dorf noch im Boden ist. Selbst wenn der Abbau nicht durch Besetzungen oder Blockaden behindert wird, die Methode des sogenannten zivilen Ungehorsams – das heißt sich Gesetzen oder Regelungen friedlich zu widersetzen, um gegen sie zu protestieren – wird im Instrumentenkasten der Klimaschutzbewegung erhalten bleiben. Das zeigen auch die Aktivisten, die sich aus Protest gegen die deutsche Klimapolitik auf Straßen festkleben und damit für viel Empörung sorgen.

Denn für das deutsche Spießertum ist die Sache ziemlich einfach: “Es gibt Regeln, an die hat man sich zu halten.” Dabei wendet sich ziviler Ungehorsam nur oberflächlich gegen Regeln. Eigentlich geht es darum, Wie und Warum sie überhaupt eingeführt wurden. Über das Warum wurde viel diskutiert. Die Bundesregierung behauptet, der Kompromiss mit RWE sei insgesamt gut für das Klima. Die Besetzer und zehntausende Demonstranten sehen in dem Dorf eine rote Linie. “Die 1,5-Grad-Grenze verläuft vor Lützerath”. Sie stützen sich dabei auf eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Es gibt allerdings auch Gegenstimmen, die diese Behauptung für einen Mythos halten. Grund dafür sei der Emissionshandel der Europäischen Union, sprich, wenn die Kohle unter Lützerath nicht genutzt wird, werden die Emissionen woanders ausgestoßen. Diese Frage wurde in der Öffentlichkeit breit diskutiert. 

Die Positionierung zum Warum bestimmt in der Regel, ob ziviler Ungehorsam für richtig oder falsch gehalten wird. Wer der Meinung ist, der Abbau der Kohle unter Lützerath entscheidet, ob Deutschland seinen Beitrag zum 1,5-Grad-Ziel leistet, findet die Besetzung des Dorfes richtig. Wer das nicht so sieht, findet sie falsch. Tatsächlich liegt der Hase aber woanders im Pfeffer. Denn egal ob sich an Lützerath der Erfolg der deutschen Klimapolitik entscheidet, oder es dafür komplett irrelevant ist – welche Möglichkeiten werden der Bevölkerung denn gegeben, um über diese Frage mit zu entscheiden? Damit sind wir beim Wie.

Die Deutschen sind gespalten in ihrer Sicht auf die Räumung von Lützerath. Laut einer Umfrage des Civey-Instituts waren knapp 40 Prozent dagegen und knapp 40 Prozent dafür. Bei aller Empörung über zivilen Ungehorsam, über die mindestens so viel berichtet wurde wie über ihn, ist das Thema also polarisierend. Die politische Entscheidungsmacht lag allerdings alleine bei der NRW-Landesregierung. Die wurde zwar von den Bürgern gewählt. Das als Zustimmung für ihre Entscheidung zu werten ist aus zwei Gründen schwierig. Erstens reichen zwei Kreuze nicht aus, um den Willen des Volkes auch nur annähernd in politischen Entscheidungen abzubilden. Parteien vertreten tausende Positionen, deshalb grenzt es immer wieder an Wahnsinn, auf Basis einer Wahl bei einzelnen Entscheidungen den Willen des Volkes hinter sich zu glauben. Zweitens kommt in diesem Fall hinzu, dass Bürger in NRW ihre Wahlentscheidung gar nicht nach den Positionen zu Lützerath treffen konnten.

Denn das Wort “Lützerath” kam weder im Wahlprogrammen der Grünen noch in dem der CDU vor. Die Grünen hatten sich zwar in Reden für seinen Erhalt ausgesprochen. Nach der Wahl haben sie aber zusammen mit der CDU einen Koalitionsvertrag unterschrieben, der keine klare Aussage zu Lützerath macht. In einem später ausgehandelten Kompromiss mit RWE hat man sich schließlich auf die Räumung geeinigt. Der Einfluss der Wähler auf die Räumung Lützerath ist damit noch geringer als üblich. 

Auf die Kritik, ihr Wort gebrochen zu haben, entgegnen die Grünen, dass sie nunmal einen schmerzhaften Kompromiss machen mussten. Das ist erstmal ein legitimes Argument, denn so funktioniert das repräsentative Regierungssystem, wie auch immer man das finden mag. Doch so oft diese Ausrede auch benutzt wird, aus irgendeinem Grund scheint niemand zu bemerken, dass es eigentlich ein Argument gegen dieses System und für mehr Demokratie ist. 

Niemand aus der Landesregierung hat öffentlich auch nur den Hauch eines Gedanken an einen Volksentscheid in der Frage Lützerath geäußert, bevor in einer höchst angespannten Lage die Konfrontation von jahrelang aktiven und sichtlich frustrierten Demonstranten mit Hundertschaften aus ganz Deutschland riskiert wurde. Diese Menschen wurden in den zivilen Ungehorsam gezwungen – nicht nur, weil die Politik nicht genug für den Klimaschutz tut, sondern weil die Politik uns nicht die Möglichkeit gibt, selbst über unsere Klimapolitik zu bestimmen. Genau wie in jedem anderen Politikfeld gilt: Wir werden strukturell diskriminiert, weil wir nicht mitentscheiden können.

Egal, wie man zu ihren Anliegen oder Methoden steht – jeder sollte das Verständnis für die Frustration darüber aufbringen können, im politischen System mit der eigenen Stimme keinen Einfluss zu haben, der diesem System das Recht gibt, sich demokratisch zu nennen. Dieses Verständnis sollten wir alle haben, denn wir alle leben in eben so einem System.