Die Wahlrechtsänderung von CDU/CSU und SPD wurde am Freitag, den 09. Oktober, gegen die Opposition durchgesetzt. In früheren Debatten zum Wahlrecht war es noch Tradition, Beschlüsse gemeinsam zu verhandeln und mit möglichst breiter Zustimmung zu fassen. Dem Beschluss ging eine kontroverse und teilweise sehr hitzige Debatte voraus, in dem die Opposition den Regierungsparteien Handlungsunfähigkeit und ihrem Antrag Wirkungslosigkeit vorwarf.

Seit Jahren sah sich der Bundestag bereits mit dem Problem seiner wachsenden Sitzanzahl konfrontiert. Aus Sicht der Koalitionsparteien endete in der letzten Sitzungswoche der lange Prozess zur Findung einer entsprechenden Lösung. Mahmut Özdemir (SPD) merkt zu Beginn seiner Rede an, wenn es einfach gewesen wäre, hätte man sich schon früher geeinigt. Philipp Amthor (CDU/CSU) macht Schulden beim Phrasenschwein: „Was lange währt, wird endlich gut‟. Sein Fraktionskollege Michael Frieser sieht die Stärke des Regierungsantrags darin, dass man das grundsätzliche Prinzip des Wahlrechts beibehalte und Direktmandate maßvoll verringert würden, statt „mit der kahlen Axt‟ zu arbeiten. Er bittet eingangs darum, nicht zu starke Kritik an dem Gesetzesentwurf zu üben, nur weil er nicht für alle optimal sei.

Britta Haßelmann (Bündnis 90/Die Grünen) zeigt hierfür keinerlei Verständnis, auch weil Frieser im September noch eine der besten Reformen der letzten Zeit angekündigt habe. Ihr zufolge ist die Regierung in diesem Thema „handlungsunfähig‟ und die Wahlreform „kläglich gescheitert‟. Inhaltlich betont sie vor allem den Bruch mit dem Grundsatz des Vollausgleichs. Oppositionskollege Konstantin Kuhle (FDP) fällt ein ähnlich vernichtendes Urteil und beschreibt die Reform als „objektiv ungeeignet‟, das zentrale Problem zu lösen, da sie keine Verkleinerung des Bundestages bewirke. Als Beleg führt er die Kritik des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages an, der in einer Ausarbeitung tatsächlich ein Ersparnis von lediglich 27 Sitzen durch die Reform prognostiziert. Damit wäre die Sitzanzahl immer noch weit über Sollgröße. Kuhle bemängelt auch, dass manche Maßnahmen erst für die Bundestagswahlen 2025 gelten werden. Die vollständige Umsetzung innerhalb eines Jahres sei zwar schwer, diese Situation hätten die Regierungsparteien durch ihr Verzögern jedoch selbst herbeigeführt.

Die AfD vermisst ebenfalls eine wirkungsvolle Wahlrechtsreform, was sie als Symbol für das gesamte Regierungshandeln interpretiert. Albrecht Glaser erwähnt hierzu in seiner Rede die Kritik der Sachverständigen des Bundestags. Er bezieht sich zudem auf ein „professionelles Gutachten‟, laut dem von allen Mandaten hinter den direkt gewählten der geringste Anteil an Wähler:innen stehen würde. Der Antrag seiner Partei sieht vor, dass gewählte Direktmandate nicht zwangsläufig einen Sitz im Parlament bedeuten.

Der Abgeordnete Friedrich Straetmanns (Die Linke) verweist nicht nur auf formelle Fehler im Gesetzestext, sondern auch auf das fortbestehende Problem des negativen Stimmgewichts. Er sieht weiterhin verfassungsrechtliche Probleme in der Tatsache, dass Ausgleichsmandate erst ab 3 Überhangmandaten eingesetzt werden. Frieser hält jedoch dagegen, dass dies ein sehr niedriger Schwellenwert sei. Özdemir beklagt wiederum Schwächen des Antrags von FDP, Grünen und Linken, welche sich der Diskussion durch ihre pauschale Ablehnung von Änderungen bezüglich der Listenplätze entzogen hätten. Sein Koalitionskollege Amthor knüpft durch seinen Vorwurf an, die Opposition habe sich aus eigenem Interesse auf die Direktmandate fokussiert.

Aus Sicht von FDP und Die Linke profitiert vor allem die CSU von der Reform, da sie bei den letzten Bundestagswahlen in Bayern alle 46 Direktmandate gewann und diese in Zukunft nicht ausnahmslos ausgeglichen werden. Kuhle spricht hier von einer „Extrawurst für die Union‟. Deren Abgeordneter Amthor entgegnet, jedes Direktmandat werde in Wahlen fair erkämpft. Er lehnt den Vorwurf parteitaktischer Überlegungen ab, nicht seine Fraktion profitiere vom Gesetzesvorschlag der Koalitionsparteien, sondern die Demokratie. Durch den Erhalt des bundesweiten Proporzes ist Amthor zufolge jede Stimme gleich viel wert und der eigene Antrag sei, im Gegensatz zu dem der Opposition, verfassungskonform.

Der fraktionslose Abgeordnete Marco Bülow forderte in seiner Rede eine Versammlung von Bürger:innen für Entscheidungen zum Thema Wahlrecht, da Parteitaktik hier eine zu große Rolle spiele. Sein Kollege Mario Mieruch plädierte für die Absenkung der 5%-Hürde auf 3% und legte einen entsprechenden gemeinsamen Änderungsvorschlag mit Bülow und der ebenfalls fraktionslosen Frauke Petry vor. Diesen ereilte in der abschließenden Abstimmung jedoch das gleiche Schicksal wie die Anträge von FDP, Grünen und Linken sowie der AFD.

Verfassungsrechtliche Fragen spielten nicht nur während der Bundestagsdebatte eine zentrale Rolle. Die Linke kündigte bereits an, eine Normenkontrollklage vor dem Bundesverfassungsgericht anzustoßen, Haßelmann kündigte eine entsprechende fraktionsinterne Prüfung seitens der Grünen an. Diese wurde von beiden Parteien bereits im Vorfeld als Reaktion auf die Einigung zwischen Union und SPD angekündigt, auch die FDP schloss sich an. Für eine solche Klage müssen 25% des Bundestages stimmen, diese Anforderung können alle 3 Fraktionen geschlossen erfüllen.