Die Frage nach dem Monopol

Der Markt für Lieferdienste boomt nicht erst seit Beginn der Pandemie, doch wie in vielen Branchen auch wird die vor vielen Jahren gestartete Entwicklung in diesem Bereich durch Corona verstärkt und beschleunigt. Abgesehen von den vielen Angeboten, die etliche Restaurants unabhängig voneinander ergreifen, scheint jedoch wenig verwunderlich die bequeme Bestellung über Onlineplattformen immer mehr Fahrt aufzunehmen. Während zu Beginn noch viele verschiedene Anbieter wie Lieferheld, Pizza.de und andere große Ketten im Markt angesiedelt waren, besteht ebenjener seit 2019 nur noch aus einem Unternehmen: Lieferando.

Der Tochterkonzern der holländischen Firma Just Eat Takeaway regiert den deutschen Markt nach dem Aufkauf des Konkurrenten Delivery Hero, zu dem neben obengenannten Lieferheld und Pizza.de auch Foodora gehört. Eine Übernahme mit Erfolg, wie ein Blick auf die Umsatzzahlen im Jahre 2020 zeigt: Das Unternehmen verdoppelte die Einnahmen von 80 Millionen Euro im ersten Halbjahr 2019 auf rund 161 Millionen Euro im gleichen Zeitraum in 2020, was auch an momentan fehlenden ernstzunehmenden Konkurrenten liegt. Ein Quasi-Monopol also, in einem Wirtschaftssystem, das den Wettbewerb durch Fusionskontrollen und Gesetze gegen Beschränkungen kontrolliert. Dafür ist das Kartellamt zuständig, das den Zusammenschluss von Unternehmen zu untersagen plant, „wenn dadurch wirksamer Wettbewerb erheblich behindert wird“.

Dennoch ist eine solche Stellung eines Unternehmens nur dann ein Problem, wenn er zum Nachteil für beteiligte Akteure im System wird, wie zum Beispiel für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Eine negative Konsequenz habe die Einschränkung der Konkurrenz hier unter normalen Umständen jedoch nicht, so Jochen Glöckner, Professor für deutsches und europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht an der Universität Konstanz, „wenn der Monopolaufschlag des marktbeherrschenden Lieferdienstes zu hoch wird, gehen entweder die Verbraucher wieder ins Restaurant oder die Restaurants entwickeln eigene Lieferdienste.“. Darüber hinaus stellt Glöckner allerdings zwei weitere Dinge heraus. Erstens weise  der Markt unter Lockdown-Bedingungen Besonderheiten, da die oben skizzierte Alternative für Kundinnen und Kunden momentan nicht existiert. Zweitens könne der Lieferdienst die Monopolmacht potenziell gegenüber den Mitarbeitenden missbrauchen. Beide Entwicklungen lassen sich zumindest bereits im Ansatz erkennen. Seit kurzer Zeit müssen Kundinnen und Kunden bei Lieferando beispielsweise 90 Prozent höhere Lieferkosten zahlen, das zeigten Untersuchungen in einzelnen deutschen Städten. Auch die Behandlung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter scheint wenigstens fragwürdig zu sein, gibt es doch immer wieder Beschwerden über fehlenden Datenschutz oder die erschwerte Gründung von Betriebsräten. Es könnte also Anhaltspunkte geben, die einen Eingriff vonseiten des Bundeskartellamts rechtfertigen würden. Ein Sprecher des Bundeskartellamts beantwortete eine Anfrage dazu schriftlich folgendermaßen: „Derzeit führen wir kein Verfahren gegen Lieferando. Wir beobachten die Marktentwicklung aber weiterhin sehr aufmerksam.“ Woran liegt es jedoch konkret, dass Lieferando nun bereits seit einiger Zeit in Monopolstellung agieren darf und das Kartellamt zurzeit lediglich als beobachtende Instanz agiert? Vornehmlich seien formelle Gründe dafür verantwortlich, so heißt es in der schriftlichen Stellungnahme weiter. Erst ab einer bestimmten Umsatzgröße international und innerhalb Deutschlands würden Zusammenschlüsse und Übernahmen kontrolliert.

Im Grundsatz ist es zudem erst einmal richtig festzustellen, dass die Bürgerinnen und Bürger auch in Zeiten der Corona-Pandemie die Möglichkeit haben, ihr Essen bequem direkt über die Internetseiten der Restaurants zu bestellen, viele Gastronomiebetriebe bieten eigene Liefer- oder Abholdienste an. Laut Lieferando seien diese immer noch die größte Konkurrenz für den Onlineanbieter. Die Gefahr für Lieferando besteht dabei speziell darin, dass Provisionen für das Unternehmen wegfallen, sobald eine Bestellung direkt beim Restaurant eingeht. Im Vergleich dazu werden 30 Prozent an Provision fällig, wenn Mitarbeitende von Lieferando die Ware ausliefern, allein 13 Prozent fallen für die Nutzung der Website als Vermittlungsinstanz an. Ein Anteil, den die Restaurants bei der Zusammenarbeit mit Lieferando einerseits in Kauf nehmen müssen, da Alternativen momentan rar sind, andererseits aber auch gezielt forcieren, da sie über das Onlineportal häufig einen Zuwachs an Bestellungen verzeichnen, jedenfalls nach Aussage von Verantwortlichen des Lieferando-Konzerns in Deutschland. Zum Problem wird das Liefergeschäft für Lieferando also nur dann, wenn immer mehr Restaurants einen eigenen Lieferdienst anbieten, der sich nachhaltig als effektiv erweist. Interessierte bestellen direkt bei den Einrichtungen, Lieferando geht als Vermittlungsinstanz leer aus – parallel zum massiven Wachstum des Lieferdienstriesen scheint sich auch diese Entwicklung immer weiter abzuzeichnen, ein eigener Lieferdienst könnte für viele Gastronomiebetriebe tatsächlich wirtschaftlich rentabel sein. Lieferando könnte also langfristig weniger nachgefragt werden.
Ob als Gegenmaßnahme dazu oder aus anderen Gründen – neue Methoden des Mutterkonzerns Just Eat Takeaway werfen neue Fragen in Bezug auf die Wettbewerbsgerechtigkeit im Markt der Lieferdienste auf. Wie eine Recherche des Bayerischen Rundfunks zuletzt zu Tage brachte, erstellte das Unternehmen europaweit gut 120.000 sogenannte Schattenwebseiten, 50.000 von ihnen allein in Deutschland. Diese Internetseiten werden von Lieferando betrieben und ähneln sowohl von URL als auch vom Design den eigenen Websites der Restaurantbetreibenden. Bei einer Bestellung der Kundinnen und Kunden über die Seite – möglicherweise mit der Intention, dem Geschäft mit Lieferando aus dem Weg zu gehen – kassiert der Konzern dennoch die Provision von den Restaurants, die von dieser Praxis in den meisten Fällen nichts ahnen. Im Hinblick auf die Gastronomiebetriebe ist das jedoch nicht unbedingt ein kartellrechtliches Problem, führt Kartellrechtsexperte Prof. Dr. Glöckner aus. Nach den ihm vorliegenden Informationen sei anzunehmen, dass „die Einrichtung von Websites in AGB wirksam vereinbart wurde und die Unternehmen sogar ein Widerspruchsrecht haben“. Wenn unter diesen Bedingungen die Betreibenden die Websites nicht bemerkten oder nicht über ihre Möglichkeiten des Widerspruchs Bescheid wüssten, sei das kein Grund für ein Einschreiten: „[D]as Wettbewerbsrecht muss nicht unbedingt die Schlafmützen schützen“. Lieferandos Praxis sei potenziell eher für die Verbraucher problematisch und zwar dann, „wenn diese nicht (mehr) erkennen, dass sie gar nicht auf der Website ‚ihres‘ Lieblingsrestaurants sind“. Hier könne dann auch ein Verstoß gegen das aktuelle Wettbewerbsrecht vorliegen, da es sich bei der Einrichtung der Schattenwebsites, je nach deren Gestaltung, um „unlautere, weil irreführende Werbung“ handeln könnte. Zur Abwägung müssten die konkreten Webseiten genauer unter die Lupe genommen werden, um beispielsweise eine besondere Informationspflicht nach der sogenannten Omnibus-Richtlinie der EU prüfen zu können. Insgesamt vermutet Glöckner, dass das Kartellamt die weitere Entwicklung in diesem Fall aufmerksam verfolgen werde. Für andere Expertinnen und Experten rechtfertige allein die Unterstützung des Geschäfts anhand von Schattenwebsites eine rechtliche Überprüfung.

Ein weiterer Kritikpunkt an der wettbewerblichen Praxis des Lieferando besteht zudem in einer Kooperation des Konzerns mit Google. Seit 2020 können Interessierte ihr Essen direkt über die Suchmaschine und über Maps ordern, die Bestellung wird über Lieferando abgewickelt. Die Anzeige erscheint häufig ganz oben bei den Suchergebnissen und könnte somit Lieferando langfristig als ersten Anlaufpunkt zementieren. Ähnliche Fälle der Zusammenarbeit von Google mit anderen Unternehmen wurden in der jüngeren Vergangenheit weltweit genau unter die Lupe genommen, das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen wurde erst Anfang des Jahres reformiert, unter anderem um gerade jene Arten der Zusammenarbeit stärker beschränken zu können. Ist also die 10. GWB-Novelle genau der richtige gesetzliche Rahmen, um die Praxis Lieferandos im Wettbewerb einer stärkeren Kontrolle zu unterstellen? Prof. Glöckner bejaht dies. Die Reform habe als einen Aspekt explizit die Rolle von Vermittlungsplattformen stärker untersucht und bei diesem Punkt nachgebessert. Davon sei im Grundsatz auch Lieferando betroffen: „Auch Lieferando hat eine Rolle als Vermittler, der eine Online-Plattform betreibt. Insoweit ‚passt‘ die Zielrichtung der Novelle wunderbar.“ Zusätzlich sei auch auf EU-Ebene eine weitere Verschärfung in Bezug auf digitale Märkte in Arbeit. Dennoch ist Glöckner insgesamt der Ansicht, dass es sich nach seinem Stand der Kenntnis von den Arbeitsweisen des Konzerns nicht um eine missbräuchliche Ausnutzung der Marktmacht handle.

Wie geht es also weiter mit Lieferando und der Frage, ob der Konzern die vorherrschende Situation eines Quasi-Monopols für geschäftliche Zwecke ausnutzt? Das Bundeskartellamt scheint sich zumindest darüber im Klaren zu sein, dass sich das Unternehmen zurzeit nah an der Grenze des Erlaubten bewegt, das suggeriert zumindest die Aussage, dass die Marktentwicklung weiterhin im Auge behalten werde. Klar ist aber auch: Für den Moment kann weder das Bundeskartellamt noch Kartellrechtsexperte Glöckner einen Verstoß des Unternehmens gegen geltendes Recht erkennen.
Für die zukünftige Marktentwicklung Lieferandos spielen somit auch Kundinnen und Kunden eine große Rolle, bei denen oft Unwissenheit dafür verantwortlich ist, dass die eigenen Möglichkeiten nicht wahrgenommen werden. Viele wüssten nicht einmal von den eigenen Lieferdiensten der Restaurants, „für die [Kundinnen und Kunden] ist Bestellen Lieferando”. Kurzfristig sind also wir alle dafür verantwortlich zu entscheiden, inwieweit wir die Geschäftspraxis Lieferandos unterstützen wollen. Wir haben die Wahl.