Die Geschichte des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland ist noch nicht allzu lang, es gibt ihn im Sommer 2021 gerade einmal sieben Jahre – und doch ist die Diskussion um das Thema immer wieder eine hitzig geführte. Zum Teil liegt das vermutlich an der Entwicklung hin zu einer vorgeschriebenen, branchenübergreifenden Lohnuntergrenze. Jahrelanger Ablehnung durch die Union und der FDP weit vor der Einführung 2014 standen regelmäßig Forderungen von SPD, der Linken und Arbeitnehmerverbänden gegenüber. Dabei ging es in großen Teilen um die Höhe der Summe, die minimal für eine Stunde Arbeit gezahlt werden sollte. Anhängerinnen und Anhänger der Linken-Fraktion waren die zu Beginn beschlossenen 8,50€ als Untergrenze deutlich zu niedrig, der damalige Unions-Beauftragte hätte sich auch mit 4,50€ als Minimum zufrieden gegeben. Auch wenn heute der Mindestlohn als Grundpfeiler der Beschäftigung nicht mehr in Frage gestellt wird, zeichnet sich dennoch ein ähnliches Bild, wenn es um sein Volumen geht: Es sind speziell die Fraktionen von Bündnis90/Die Grünen und Die Linke, die eine deutliche Aufstockung fordern – trotz der erstmaligen Überschreitung der Grenze von zehn Euro pro Stunde im Sommer 2022.


Wie auch in vielen anderen essentiellen gesellschaftlichen Fragestellungen befeuert die Corona-Pandemie die Debatte um eine Erhöhung des Mindestlohns zusätzlich. Während die Gegner einer Anhebung die ohnehin schon massiven finanziellen Belastungen für Unternehmen in der Krise herausstellen, diene unter anderem für Arbeitnehmerverbände die Pandemie als Vergrößerungsglas für Probleme, die bereits seit langer Zeit existierten – namentlich die mangelnde Bezahlung einzelner Berufsgruppen. Diese seien häufig für die Aufrechterhaltung der Versorgung für die Bevölkerung existenziell wichtig, bekämen dafür zu wenig finanzielle Anerkennung. Insgesamt arbeiten rund 22 Prozent der Beschäftigten in Deutschland im sogenannten Niedriglohnsektor, ein gewichtiger Teil von ihnen erhält nur das absolute Minimum von 9,35 Euro. Wenig überraschend gehören zu den beschriebenen Branchen auch etliche Pflegeberufe. Tatsächlich können viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Bereichen der Pflege kaum von der eigenen Bezahlung leben, wie kürzlich erst wieder Berechnungen des Bundesarbeitsministeriums aufzeigten. Demnach müssten geringqualifizierte Altenpflegekräfte mindestens 53 Jahre ununterbrochen arbeiten, um überhaupt eine Rente auf Niveau der Grundsicherung von 832 Euro zu erhalten. Obwohl zum 1. April 2021 der Mindestlohn in Pflegeberufen angehoben wurde, ändere sich die zuvor dramatischere Prognose kaum, wirklich helfen würde in diesem Zusammenhang vermutlich nur ein allgemein gültiger Tarifvertrag. Dieser wurde jedoch zuletzt von kirchlichen Pflegeanbietern wie der Caritas abgelehnt, was teils massive Kritik aus der Politik hervorrief.

Durch eine Anhebung des Mindestlohns in Pandemie-Zeiten könne laut Verfechtern zudem die Kaufkraft potenzieller Kundinnen und Kunden gesteigert werden, eine Konsequenz, die schlussendlich auch der Wirtschaft gefallen dürfte.

Eine Anhebung des gesetzlichen Mindestlohn forderten in der letzten Woche in jeweils eigenen Anträgen die Fraktionen Die Linke und Bündnis90/Die Grünen. Beide Parteien streben eine Erhöhung auf zwölf Euro an, Die Linke möchte diesen Schritt aber sofort vollziehen, während die Grünen den Betrag schrittweise erreichen möchten. Die wichtigsten Argumente aller Bundestagsfraktionen bekommt ihr wie immer im Recap.

Beginnen darf bei dieser Debatte die Linken-Abgeordnete Susanne Ferschl. Zu Beginn greift sie direkt eines der gewichtigsten Argumente der Kritiker auf, indem sie betont, dass die Verhandlung von Löhnen normalerweise Aufgabe der Sozialpartner sei. Die Politik habe sich bei der Entwicklung des Mindestlohns unter normalen Umständen zurückzuhalten. Allerdings sei beim Thema Mindestlohn eine Situation entstanden, die offensichtlich als Folge politischer Entscheidungen betrachtet werden kann – namentlich der Fakt, dass Menschen von ihrer Arbeit nicht mehr leben können. So seien Lohnuntergrenzen erst aus dem Grund notwendig geworden, dass die Deregulierung der Märkte Beschäftigte und Gewerkschaften geschwächt habe. Zudem habe die Einführung von Hartz IV ein Lohndumping heraufbeschworen. Insgesamt scheitere die zielgerichtete Erhöhung des Mindestlohns daran, dass die Bundesregierung und im speziellen die Union der Lohnentwicklung einen zu niedrigen Stellenwert beimesse. Dabei habe ein Mindestlohn in zufriedenstellender Höhe große Potentiale – unter anderem könne er die gravierenden Lohnunterschiede zwischen der ost- und westdeutschen Bevölkerung vermindern. Ferschls Kollegin Sabine Zimmermann macht zudem zu einem späteren Zeitpunkt deutlich, warum eine Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro in einem Schritt erfolgen müsse. Würde sie sukzessive erfolgen, sei die maximale Summe zum späteren Zeitpunkt erneut zu niedrig bemessen und es müsse nachgesteuert werden. Um einem “Lohndumping made in Germany” entgegenzuwirken, müsse der Mindestlohn nun endlich der Steigerung der Arbeitsproduktivität angepasst werden.

Der Unions-Politiker Peter Weiß unterstützt im Folgenden zunächst die Feststellung der Linken, dass die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns die richtige Entscheidung war, auch einer Erhöhung auf zwölf Euro sei die CDU nicht abgeneigt. Dennoch sei der Bundestag generell nicht der richtige Ort, um Löhne auszuhandeln. So sei es vielmehr Teil der sozialen Marktwirtschaft, die finanziellen Rahmenbedingungen in Verhandlungen von starken Gewerkschaften und starken Arbeitgeberverbänden festzuzurren. Der Abgeordnete Matthias Zimmer teilt diesen Eindruck, für ihn hätte ein weiteres Eingreifen der Politik einen Verlust der Glaubwürdigkeit der Politikerinnen und Politiker zur Folge: “Wer würde uns dann glaube, dass wir das nicht noch ein drittes oder viertes Mal machen würden?”. Genau zu diesem Zweck sei laut Weiß vor sieben Jahren die Mindestlohnkommission gebildet worden. Sie solle autonom und ohne politischen Einfluss Lohnerhöhungen beschließen können, für dessen Aushandlung sie Gestaltungsspielräume erhalten habe. Zusätzlich beweise die Initiative der Linken, dass sie den deutschen Gewerkschaften massiv misstraue, auf eigenem Wege faire Löhne für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aushandeln zu können. Aus seiner Sicht suche Die Linke verzweifelt nach Wahlkampfthemen und missachte dadurch den eigentlichen Fokus des Mindestlohns. Dieser solle nicht als Lebensperspektive dienen, sondern sei lediglich vorübergehend anzustreben, als eine Art “Sprungbrett”. Für die Verbesserung des Arbeitsmarktes seien die nötigen Schritte eher eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik sowie Angebote in der Qualifizierung, Fort- und Weiterbildung von Arbeitskräften.

Während der Debatte kommen in Person von Uwe Witt und Jürgen Pohl auch zwei AfD-Abgeordnete zu Wort. Beide betonen die Unterstützung eines gesetzlichen Mindestlohns als Gegenmaßnahme zu prekären Arbeitsverhältnissen. Allerdings stünden bei einer Erhöhung der Lohnuntergrenze auf zwölf Euro positive Konsequenzen für die Arbeitskräfte in keinem Verhältnis mit den negativen für die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. So ergäben sich für sie signifikante Mehrkosten, die sich für die Bevölkerung schlussendlich in höheren Preisen für Dienstleistungen und Produkte niederschlagen würden. Darüber hinaus würde eine Erhöhung nahezu ausschließlich klein- und mittelständische Unternehmen treffen, ein Stellenabbau oder die Insolvenz etlicher Unternehmen wären langfristig unvermeidbar. Insgesamt sei ohnehin das Verhalten der Regierung dafür verantwortlich, dass viele Menschen von ihrem Einkommen nicht leben können. Deutschland habe die höchste Abgabenlast der Welt und deutlich zu hohe Strompreise. Ähnlich wie die Union kommen die beiden Abgeordneten zu dem Fazit, dass sowohl Grüne als auch Linke mit ihren “rein populistischen Forderungen” Wählerinnen- und Wählerstimmen generieren wollen.

Als größte Unterstützerin der Vorhaben von Grünen und Linken präsentiert sich im Verlauf die SPD, die einen gesetzlich geregelten Mindestlohn als einen “Meilenstein für unser Land” ansieht. Nach Ansicht des Abgeordneten Bernd Rützel seien die Anträge von Linken und Grünen “im Grunde nicht verkehrt”, besonders da die Corona-Pandemie die wachsende Bedeutung vieler Gesellschaftsgruppen gezeigt habe, die momentan deutlich zu wenig Geld für ihre Arbeit erhielten. Zudem stelle ihn die von der Mindestlohnkommission diktierte Entwicklung des Mindestlohns seit der Einführung nicht zufrieden. Eine Erhöhung von lediglich einem Euro in sieben Jahren sei schlicht “ein bisschen wenig”. Die SPD stehe generell hinter einer stärkeren Anhebung, allerdings würde dem Vorhaben oft ein Dissens mit der Union im Weg stehen. Beide Fraktionen hätten sich in der Vergangenheit nicht einigen können, sei es bei der stärkeren Kontrolle der gezahlten Gelder oder bei Überlegungen zur Einführung von Tariflöhnen in bestimmten Branchen.

Die Grünen als zweite antragstellende Fraktion stellen im weiteren Verlauf der Debatte ihre Argumente für die angestrebte Mindestlohnerhöhung vor und loben in dem Zusammenhang das Vorhaben der Linken als einen konkreten Antrag mit detaillierten und ausführlichen Forderungen. Generell sei es im Übrigen eine “Frage der Gerechtigkeit”, von der Armut bedrohte Berufsgruppen über die Armutsschwelle zu heben. Doch nicht nur Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer würden von einer Anhebung des Mindestlohn-Satzes profitieren, auch die Wirtschaft bekäme positive Auswirkungen zu spüren. Mit einer Erhöhung seien speziell eine höhere Produktivität und ein größeres Arbeitsangebot verbunden. Um dies zu gewährleisten, sei jedoch eine Weiterentwicklung der Mindestlohnkommission notwendig. Unter anderem müsse die Stelle mehr Spielräume erhalten, sodass sich die Höhe des Mindestlohns nicht ausschließlich an der Tarifentwicklung orientieren muss. Zudem müsse das Personal für die Finanzkontrolle Schwarzarbeit massiv aufgestockt werden, für diese Stelle seien die Zahlen fatal: Momentan seien mindestens 2000 Stellen unbesetzt. Insgesamt sei laut der Grünen-Politikerin Beate Müller-Gemmeke ein Mindestlohn ohnehin nur die “unterste Haltelinie”. Gute Tarifverträge in einem Bundestariftreuegesetz seien anzustreben; doch für den Moment müsse ein Mindestlohn eingeführt werden, der “tatsächlich vor Armut schützt”.

Selbstverständlich kommt auch die FDP-Fraktion bei der Sitzung zu Wort, in Form der Abgeordneten Carl-Julius Cronenberg und Pascal Kober. Ersterer gibt einen kurzen Einblick in die Überzeugungen seiner Partei zum Thema Mindestlohn: Wenig überraschend sei diese davon überzeugt, dass der Markt gemeinsam mit Sozialpartnern wie den Gewerkschaften die Entwicklung der Bezahlung allein bestimmen könne, in der Vergangenheit habe sich dies als “Quelle des Erfolgs” herauskristallisiert. Konkret bestehe dieser Erfolg in der Tatsache, dass sich die Armut seit 2005 quasi halbiert habe. Das bringe Cronenberg zu der Erkenntnis, dass nicht der intervenierende Staat vor Armut schützt, sondern Aufschwung und Wachstum. Parallel dazu würde der Blick in deutsche Nachbarländer zeigen, dass ein “angeblich armutsfester” Mindestlohn nicht zwangsläufig einen positiven Einfluss auf die Wirtschaft haben muss. Trotz eines minimalen monatlichen Gehalts von 1500 Euro sei die Arbeitslosigkeit in Frankreich fast doppelt so hoch wie hierzulande. Anstelle eines höheren Mindestlohns müsse der Staat mehr Geld und Mühen in Möglichkeiten zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, zu höheren Aufstiegschancen für Start-Ups und Selbstständige investieren. Unter dem Strich stellten die Versuche der Linken und Grünen lediglich ein Werben für Wählerinnen und Wähler dar und sei “Gift für den Arbeitsmarkt”.

Nach der ausführlichen Debatte wurden die Anträge der Linken und Grünen von einer großen Mehrheit abgelehnt, nur die beiden antragstellenden Fraktionen enthielten sich bei den Abstimmungen zu dem jeweiligen Alternativvorschlag.. Während die meisten Argumente nicht wirklich überraschen dürften – genannt sei an dieser Stelle zum Beispiel der Fokus auf die Marktregulierung vonseiten der FDP – ist besonders das Verhalten der SPD in der Diskussion auffällig. Auch in der kurzen Zusammenfassung in diesem Recap sollte der Eindruck erweckt worden sein, dass sie mit vielen Argumenten der Linken und Grünen sympathisierten. Vor allem der erste Redner Rützel lobte den Antrag nahezu überschwänglich und rüffelte die Union als Koalitionspartnerin deutlich für eine fehlende Kompromissfähigkeit. Dennoch stimmten die Sozialdemokraten schlussendlich gegen beide Anträge, was allein basierend auf den präsentierten Argumenten verwundert. Das Beispiel zeigt eindrücklich wieder einmal ein Problem, das bei den meisten Abstimmungen im Bundestag auftritt – nämlich dass die Koalitionspartner nahezu immer zusammenhalten, dafür sogar die eigentliche Position unterdrücken und als Folge möglicherweise wichtige Gesetzesänderungen blockieren. Ein weiterer Punkt spricht in dem Zusammenhang eine deutliche Sprache und unterstützt das vorher angeführte Argument. Vor wenigen Wochen veröffentlichte die SPD als erste Partei des Bundestags einen Entwurf des Wahlprogramms für die kommende Bundestagswahl im September, ein wichtiger Bestandteil darin: ein Mindestlohn von zwölf Euro. Das Abstimmungsverhalten der eigenen Fraktion scheint also tatsächlich nicht der eigentlichen Überzeugung der Partei zu entsprechen.
Dies zeigt, dass die Wahlprogramme der Parteien einen guten Überblick geben können, nicht nur über die Pläne für die Zukunft, sondern auch über verpasste Chancen in der Vergangenheit. Wir werden das in den kommenden Wochen und Monaten verstärkt in den Fokus nehmen, bleibt also unbedingt dabei!